Kollektiv








Der Begriff Kollektiv (lateinisch colligere ‚zusammensuchen‘, ‚zusammenlesen‘) benennt unspezifisch soziale Gebilde, deren Zugehörige nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten zusammengefasst werden – es kann etwa ein Volk, eine Klasse oder eine Belegschaft sein.




Inhaltsverzeichnis






  • 1 Der Begriff in der Soziologie


    • 1.1 Unorganisierte Kollektive


    • 1.2 Organisierte Kollektive




  • 2 Der Begriff in der Kulturwissenschaft


  • 3 Kollektive in der Alternativen Ökonomie


  • 4 Kollektive im Sozialismus


  • 5 Kollektivbewusstsein


  • 6 Kritik


    • 6.1 Kritik an kollektiven Organisationsformen


    • 6.2 Begriffskritik




  • 7 Siehe auch


  • 8 Literatur


  • 9 Weblinks


  • 10 Einzelnachweise





Der Begriff in der Soziologie |


In der Soziologie wird zwischen unorganisierten und organisierten Kollektiven unterschieden.



Unorganisierte Kollektive |


Der Begriff Kollektiv benennt in der Soziologie nach Robert King Merton (1910–2003)[1] u. a. allgemein eine Mehrzahl von Personen, die aufgrund eines Systems von gemeinsamen Normen und Werten Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln.
Er unterscheidet sich von dem Begriff Sozialkategorie, der demographisch Personen zuordnet, und von dem Begriff soziale Gruppe, deren Mitglieder im Gegensatz zum Kollektiv miteinander in Interaktion stehen.


Vergleichbar definierte Ferdinand Tönnies (1855–1936) den Begriff Kollektiv als Samtschaft und betonte das Merkmal des fehlenden organisatorischen Zusammenhalts. Gemeinsame Willensentscheidungen und gemeinsame Handlungen kommen laut Tönnies nur unter speziellen Voraussetzungen zustande.


Als abstrakte Kollektive werden im Gegensatz zur Masse und sozialen Gruppen von Leopold von Wiese soziale Gebilde wie Kirche und Staat bezeichnet, die aufgrund von „Dauerwerten“ einen „überpersönlichen Charakter“ erhalten.



Organisierte Kollektive |


Als politisches Kollektiv wird ein soziales Gebilde mit fortschrittlichen und gemeinsamen Zielen bezeichnet, deren sich freiwillig organisierende Mitglieder durch gemeinsame Arbeit miteinander verbunden sind und nach den Grundsätzen der Gleichheit und Gleichberechtigung – oft nach dem Prinzip des Konsenses – Entscheidungen treffen und handeln.


An das Konzept der Räterepublik angelehnt definierte Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939) das Prinzip eines marxistisch–kommunistischen Kollektivs.



Der Begriff in der Kulturwissenschaft |


Der in die Kulturwissenschaft eingeführte Begriff Kollektiv ist breiter und merkmalsoffener als jener der Soziologie. Unter Kollektiv wird jede Übereinstimmung oder Zusammenschau von Personen verstanden, die eine oder mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen.


Der Kulturwissenschaftler Klaus P. Hansen legte in seinem Werk Kultur, Kollektiv, Nation (2009) theoretische Grundlagen für eine Kollektivwissenschaft und prägte darin u. a. den Begriff der Multikollektivität.



Kollektive in der Alternativen Ökonomie |



In der Alternativen Ökonomie bezeichnet Kollektiv ein hierarchieloses Projekt oder einen selbstverwalteten Betrieb. Seit Ende der 1970er entstand in der Alternativbewegung in Westeuropa und Nordamerika eine Vielzahl dieser Kollektive, in denen oftmals die Entscheidungsstruktur und Vergütung auf folgenden Prinzipien beruht:



Konsensprinzip

Unter dem Konsensprinzip wird verstanden, dass die Entscheidungen in einem gemeinsamen Prozess stattfinden, dessen Ende zur Zufriedenheit aller Teilnehmenden führt.

Prinzip der Gegenseitigen Hilfe


Gegenseitige Hilfe ist ein Begriff des russischen Anarchisten Peter Kropotkin, welches dem Konkurrenzprinzip gegenübersteht und auf Solidarität fußt. Die Tauschringe wären ein Beispiel für Gegenseitige Hilfe.

Prinzip der Gemeinsamen Ökonomie

Unter Gemeinsamer Ökonomie ist zu verstehen, dass es keine hierarchie- oder leistungsbezogenen Einkünfte gibt, sondern dass alle das gleiche Einkommen erhalten oder aber sich aus einer „gemeinsamen Kasse“ das nehmen, was sie ihrer Meinung nach benötigen.


Speziell wird damit auch die Lebens- oder Arbeitsgruppe bezeichnet, in der die Gruppenaufgaben gemeinschaftlich angegangen werden und welche die Güter „zur gesamten Hand“ besitzt. Vgl. auch Gemeinnutz.



Räte-Prinzip

Kollektive verstehen sich zueinander nicht als in Konkurrenz stehend, sondern streben eine Vernetzung an, die nach dem Prinzip der Rätedemokratie funktioniert, womit im Wesentlichen gemeint ist, dass keine Entscheidungsbefugnis „nach oben“ delegiert wird, sondern bei den Kollektiven zu bleiben habe.


Besondere Formen dieser Art von Kollektivität sind die Kommunen, in denen zudem noch gemeinsam gewohnt wird, was dann als zusätzliches Prinzip von dem gemeinsamen Leben und Arbeiten verstanden wird. Da in Deutschland die Rechtsformen nicht explizit auf diese Kollektive und ihre Prinzipien zugeschnitten sind, entstehen oftmals rechtliche Probleme.[2]


In den Ländern des Südens („Dritte Welt“) war die Kollektiv-Bewegung häufig Hoffnung einer Selbstbefreiung im Sinne einer politischen und gesellschaftlichen Emanzipation. Dabei konnte man in vielen Fällen an Formen der traditionellen – kollektiven – Ökonomie anknüpfen, wie im Fall der Ejidos in Ecuador oder der Ujamaa in Tansania.


Eine – als erfolgreich geltende – Form der Kollektive sind die Kibbuzim in Israel. Hier wirken drei kollektiv-fördernde Faktoren zusammen:



  1. gemeinsame Religion bzw. religiöse Ideologie,

  2. wirtschaftlicher Erfolg und

  3. Bedrohung von außen (gemeinsamer äußerer Feind).


Das Kollektiv als Wirtschaftsform basiert auf der Vorstellung vom ,homo collectivus’ der – anders als der ,homo oeconomicus' – seine Individualinteressen bewusst zugunsten gemeinsamer Interessen zurückstellt.



Kollektive im Sozialismus |




Gemälde „Diskussion im Neuererkollektiv“ von Willi Neubert auf einer DDR-Briefmarke von 1982


In der DDR entsprach der Begriff „Kollektiv“ ungefähr dem, was man in der Bundesrepublik Deutschland „Arbeitsgruppe“ nennt. In den Volkseigenen Betrieben, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und den Produktionsgenossenschaften des Handwerks wurde das Kollektiv als „Brigade“ bezeichnet.


In Verlautbarungen und Agitprop wurden auch große Kollektive „zitiert“, wie die Arbeiterklasse.[3]


Zur Propagierung des Kollektivs wurde auch bei spitzensportlichen Leistungen das Kollektiv (Trainer, Trainingsgruppe, Mannschaftsarzt, Physiotherapeut etc.) hervorgehoben.[4]



Kollektivbewusstsein |


Kollektivbewusstsein (französisch conscience collective ou commune) ist ein soziologischer Begriff der Durkheim-Schule für die geistigen Eigenschaften und Werte einer Gesellschaft, die sich u. a. in Systemen wie Moral, Recht, Gewohnheiten, Sprache, Gewissen, Wissen äußern. Es ist die „Gesamtheit der Glaubensvorstellungen und Gefühle, die allen Mitgliedern derselben Gesellschaft gemeinsam sind“.[5] Allgemein ist auch die Rede von Volksseele, Kollektivseele, kollektiver Mentalität, Gruppenseele und anderen Gesamtheiten geistiger Eigenschaften eines sozialen Gebildes. Das Kollektivbewusstsein bringt die „Objektivität des sozialen Geschehens“ gegenüber den individuellen Motivationen der Menschen zum Ausdruck.[6] Die genannten, dem Kulturmenschen geläufigen geistigen Eigenschaften wurden in ähnlicher Weise auch von Lucien Lévy-Bruhl beschrieben, der sie mit den „mystischen Kollektivvorstellungen“ (représentations collectives) der Primitiven verglich, (vgl. a. participation mystique),[7] sowie von Carl Gustav Jung, der das Konzept eines kollektiven Unbewussten erarbeitete (vgl. auch Archetyp (Psychologie)).


Nach Alfred Vierkandt bilden die Angelegenheiten einer sozialen Gruppe die kollektiven Bewusstseinsinhalte, die das kollektive Subjekt in Form des „Wir“ gegenüber dem individuellen „Ich“ formuliert.



Kritik |



Kritik an kollektiven Organisationsformen |


Das Modell der „Tragik der Allmende“ legt nahe, dass kollektives Eigentum zu einer erhöhten Ausbeutung der Ressourcen u. a. durch Trittbrettfahrerverhalten der einzelnen Mitglieder führt. Dies ist jedoch umstritten (siehe Tragik der Anti-Allmende).



Begriffskritik |


Kritiker der Bildung von „Kollektiven“ unterstellen, dass dabei das Bewusstsein des Einzelnen durch das Bewusstsein der Gruppe als Gesamtheit verdrängt werde (oder schärfer, dass das „Bewusstsein der Gruppe“ eine ideologische Fiktion zur Knutung des Einzelnen sei). An die Stelle der persönlichen Verantwortung trete die Verantwortlichkeit der Gruppe (siehe auch Kollektivismus und Soziologie).



Siehe auch |



  • Kollektive Intelligenz

  • Kollektive Biografie

  • Kollektivsymbolik

  • Kolchos

  • Kollektive Identität


Wortumfeld


  • Kollekte


Literatur |


Allgemein



  • Gabriel Kuhn: Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik. Unrast Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-89771-457-1.


  • Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation. Schriftenreihe der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft, Band 1. Karl Stutz Verlag, Passau 2009,. ISBN 978-3-88849-181-8


Literatur zu Kollektive in der Alternativen Ökonomie



  • Johannes Berger (Hrsg.): Selbstverwaltete Betriebe in der Marktwirtschaft. AJZ, Bielefeld 1986, ISBN 3-921680-60-3

  • Wolfgang Beywl: Betriebe in Selbstverwaltung: Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen. Verl. für Wiss. Publ., Darmstadt 1990.

  • Jürgen Daviter, Volkmar Gessner, Armin Höland: Selbstverwaltungswirtschaft: Gegen Wirtschaft und Recht? AJZ, Bielefeld 1987.

  • Ulrich Burnautzki u. a.: Unter Geiern. Ein Leitfaden für die Arbeit in selbstverwalteten Projekten. Stattbuch-Verlag, Berlin 1984.

  • Arbeitsgruppe Projektberatung (Hrsg.): Der Schatz im Silbersee – Ein Finanzierungsleitfaden für selbstverwaltete Betriebe und Projekte. Stattbuch Verlag, Berlin 1984.

  • Roland Spliesgart: Landwirtschaftliche Kollektive als Alternative? Eine Fallstudie in Landreformsiedlungen in Brasilien. LIT-Verlag, Münster / Hamburg 1995.



Weblinks |



 Wiktionary: Kollektiv – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen



  • Kollektiv: Auf ein Neues! Wildcat, Nr. 62, Mai 2006.


  • Wir, die oder alle? Kollektive als Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit. Tagungsband der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft (Band 1, = Interculture Journal, 8/2009), Passau 2009.



Einzelnachweise |




  1. Merton: Social Theory and Social Structure. 1949/1957/1964/1968, Abstract. (PDF).


  2. Harald Deerberg: Man versteht sich ja so gut … Rechtliche Probleme in und mit Kollektiven. In: Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation contraste.org.


  3. Franziska Becker et al. (Hrsg.): „das kollektiv bin ich“ – Utopie und Alltag in der DDR ISBN 3-412-13900-9


  4. Klaus Huhn: Gustav-Adolf Schur – der Star und das Kollektiv. In: Arnd Krüger, Swantje Scharenberg: Zeiten für Helden – Zeiten für Berühmtheiten im Sport. (= Schriftenreihe des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte. Band 22). LIT, Münster 2014, ISBN 978-3-643-12498-2.


  5. Émile Durkheim: De la division du travail social. [1893]. 7e édition. Paris 1960, dt. Über soziale Arbeitsteilung. 3.Auflage. 1988.


  6. Kollektivbewußtsein. In: Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 410). 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-41004-4, S. 421.


  7. Lucien Lévy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures. [1910]. 9e édition. Les Presses universitaires de France, Paris 1951, S. 27, 474 Seiten.









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